Auch wenn sie nicht immer gerne gesehen sind und der Umgang mit ihnen oft schwierig ist, kann man sie vermutlich in jedem Archiv finden: Kunstwerke!
Eine neue Archivalie im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden dürfte jedoch selbst bei erfahrenen Archivarinnen und Archivaren mehr Frage- als Ausrufezeichen hervorrufen: Museumsgut? Kuriositätenkabinett? – oder vielleicht doch einfach nur Müll? Wir haben uns für eine andere Antwort entschieden: Archivalienkunst!
Am 07.09.2023 erreichte das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ein Paket der Agentur für Unabkömmlichkeitsbegründungen (AGFU), welches ein geschreddertes Objekt des Archivs Fritzpunkt, ein an die Abteilungsleitung adressiertes Anschreiben und ein Identifikationszertifikat enthielt. Nach diesem Zertifikat handelt es sich bei dem geschredderten Objekt um „Arbeitspapiere XXXII Papier, Kunststoff, Textil 31x22x2,3 cm 0,79 kg Verein ohne Erinnerung Autohaus Simmering, Wien 2014 243“.
Der Inhalt stellte sich als Ergebnis des von der Republik Österreich geförderten Kunstprojektes „Dismantling the Archive – The Art of Disappearance“, welches das Verschwindenlassen des Archivs des Künstlerkollektivs „Fritzpunkt“ umfasst, heraus. Insgesamt wurden „nach dem Prinzip der willkürlichen Selektion“ 271 geschredderte Objekte als „Migrant ohne Aufenthaltserlaubnis“ versandt.
Nach einer Phase des Schmunzelns war für das Referat 22 guter Rat teuer. Laut Anschreiben ist den Empfängern der Umgang mit dem erhaltenen Paket freigestellt. Was also tun? Das Objekt ist selbst bei wohlwollenster Betrachtung kein staatliches Schriftgut. Es erfüllt auch keine Voraussetzungen, aus denen sich nach unserem Sammlungsprofil eine Archivwürdigkeit ableiten würde. Ja mehr noch, das Paket hat noch nicht einmal einen Bezug zu Hessen oder zur Bundesrepublik Deutschland. Nach diesen Kriterien bliebe nur eine Entscheidung: Das Objekt wird kassiert oder – mangels Zuständigkeit – postwendend an den Absender zurückgesandt!
Dennoch sind wir unter Berücksichtigung des Kontextes – durchaus nicht einhellig – zu einem anderen Ergebnis gekommen und haben es übernommen.
Die Projektgruppe setzte sich in dieser Kunstform mit dem Selbstverständnis von Archiven sowie deren Legitimation auseinander und das Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ist als Teil einer vielseitigen Archivlandschaft somit auch Teil dieses Projektes geworden. Die kritische, auch künstlerische Auseinandersetzung mit Archivierung abzubilden und der Nachwelt zugänglich zu machen, kann und sollte – so unsere Überzeugung – ebenfalls Ziel archivischer Tätigkeit sein.
Es bleibt jedoch zu betonen, dass eine Offenheit für Übernahmen jenseits des üblichen nicht zu einem Paradigmenwechsel in den Bewertungsgrundsätzen führen wird und Ausnahmen auf außergewöhnliche Einzelfälle beschränkt bleiben werden. Staatliche Archive, die verantwortungsvoll mit ihren Ressourcen umgehen und ihre archivgesetzlich geregelten Kernaufgaben erfüllen müssen, können, wollen und dürfen keine reguläre Anlaufstelle für die Bewahrung von Kunstobjekten werden.
Elias Miorandi, Wiesbaden