Blatt mit Text, Zahlen und Abstempelungen

Abrechnungsfähige Trinkgelder

In manchen Bereichen war die Zahlung von Trinkgeldern offenbar so normal, dass selbst der Oberfinanzpräsident Kassel in Rechnung gestellte Trinkgelder selbstverständlich erstattete.

Als Umzugshelfer Trinkgeld zu bekommen, ist bis in unsere Zeit eine gängige Praxis. Je nach Zugänglichkeiten der zu räumenden Wohnung und der Zielwohnung, nach Größe des Umzugs (beispielsweise Umzug eines Studierendenhaushalts oder Umzug einer großen bürgerlichen Wohnung eines Akademikers bzw. einer Akademikerin) sowie der Art des Umzugsguts (muss ein Klavier, größere Buffets oder eine Bibliothek umgezogen werden) kann dieses Trinkgeld durchaus erkleckliche Summen annehmen, wie die eigene Erfahrung des Verfassers zeigt. Umzugshelfer sind dabei besonders bei kleineren Umzugsunternehmen nicht selten moderne Tagelöhner, werden also nach Bedarf angeheuert.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich diese Situation gar nicht so sehr von historischen Gegebenheiten, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige Praxis waren. Bis weit ins 19. Jahrhundert gab es aber keine wissenschaftliche Betrachtung dieser Sitte: „der Wissenschaft lag der Gegenstand offenbar zu tief, um ihre Blicke auf sich zu ziehen“, schrieb Justizrat Prof. Dr.  Rudolf von Jhering 1882 (in seinem Werk „Das Trinkgeld“, Braunschweig 1882, S. 8). Auch das ‚Brockhaus Kleines Conversations-Lexikon‘ von 1879 (3. Auflage) klärt über das Wesen oder Unwesen des Trinkgelds nicht auf, ebenso wenig wie das Handwörterbuch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (1. Auflage, 1909-1913), dessen Eintragungen weit über religiöse und theologische Themen hinausgehen. Dieses Handwörterbuch klärt den Lesenden in kurzen Beiträgen zwar über „Trinklieder“, „Trinkerfürsorge“ und „Trinkerheilstätte“ auf, nicht aber über „Trinkgelder“. Möglicherweise sollte man eher auf alltagsbezogene Werke zurückgreifen, wie z. B. auf das „Wörterbuch für Zeitungsleser“ von 1914 – auch hier leider ohne Erfolg.

Jhering wiederum verweist darauf, dass aus einer Gewohnheit einer Zugabe von „Trinkgeld“ u. a. für das Personal in Gastwirtschaften und bei Fuhrleuten mit der Zeit so üblich und üppig wurde, dass die „Arbeitgeber“ auf die Idee kamen, die Entlohnung durch die Trinkgelder zu ersetzen (S. 29). Inwieweit im 19. Jahrhundert die Bestreitung des Lebensunterhalts ausschließlich über Trinkgelder gängige Praxis war, muss hier offenbleiben, auch wenn hier und da kolportiert wird, dass das unter anderem in den Bereichen der Gastwirtschaften, Bäckereien, der Hausdiener und bei Fuhrunternehmen so gewesen sein soll. Nicht ganz unproblematisch konnte das für die mehr oder weniger „prekären Selbständigen“, um einen modernen Begriff zu verwenden, werden, wenn die Trinkgelder infolge gesellschaftlich veränderter Wertvorstellungen der Auftraggeberinnen bzw. Auftraggeber weniger und knapper wurden. Bei seinem Plädoyer zur Abschaffung des Trinkgeldwesens sah Jheing jedenfalls nahhaltige Erfolge nur dann, wenn das Trinkgeld durch ordentlicher Bezahlung ersetzt werde. (S. 63 f.)

Modell eines LKWs mit Anhänger in Rot mit schwarzem Dach mit gelber Aufschrift „Max Marotzke Berlin-Tegel“
Modell eines Umzugs-LKWs aus den 1930er-Jahren

Als 1938 die Gauverwaltung des Reichsarbeitsdienstes (RAD) auf dem damaligen „Schlageter-Platz“, dem heutigen Walter-Schücking-Platz in Kassel sein Gau-Hauptquartier errichten wollte, war dieser Platz u. a. mit Wohngebäuden bebaut. Zur Bauvorbereitung mussten also die Mieterinnen und Mieter umgesiedelt werden. Einer dieser Mieter war der Kreispfarrer a. D. Hubach, der eine Wohnung in der Kunoldstraße 49 bewohnte. Am 6. Oktober 1938 fuhr ein 8m-Umzugslastkraftwagen der Spedition Broeckelmann sen. & Grund vor und nahm die Habseligkeiten Hubachs in die gut 10 Kilometer entfernte neue Wohnung mit.

Die Rechnung enthält neben den Posten „Möbelwagen“, Ein- und Auspacken, neun Leihkisten und Lieferung der Zeitung (!) auch drei weitere Posten, nämlich „Trinkgeld an die Leute“, „Trinkgeld an den Fahrer“ und „Trinkgeld an den Packer“. Die Summe von 11,25 Reichsmark der Trinkgelder lagen unter der Leihgebühr für die Umzugskisten. Ob der Fahrer mit einer Tagesentlohnung von 0,50 Reichsmark auskommen musste, bleibt unklar, aber ein Trinkgeld-Tageslohn von 2,75 Reichsmark für einen Packer scheint realistisch. Wie viele „Leute“ sich die 8 Reichsmark teilen mussten, geht aus der Rechnung nicht hervor. Lebten diese Arbeiter also nur von den Trinkgeldern? So oder so hatte der Fuhrunternehmer, wie sich zeigte, die volle Kontrolle über die Bezahlung seiner Beschäftigten, unabhängig davon, ob die Betroffenen neben den Trinkgeldern ein Arbeitslohn, möglicherweise sogar noch weitere, nicht dokumentierte Trinkgelder von Kreispfarrer Hubach erhielten. (HStAM Bestand 601/21 Nr. 531Öffnet sich in einem neuen Fenster)

Was heute etwas eigenartig anmutet – die Inrechnungstellung von Trinkgeldern -, war 1938 aber offenbar so normal, dass der Oberfinanzpräsident Kassel in Vertretung des RAD den gesamten Rechnungsbetrag im November 1938 anstandslos erstattete, also auch die Trinkgelder. 

Nachbemerkungen: Der Neubau des RAD-Gauhauptquartiers wurde übrigens nie begonnen, wohl wegen eines allgemeinen Baustopps für den Start öffentlicher Neubauten infolge des Kriegsbeginns im September 1939. Möglicherweise ist uns dadurch einerseits ein weiterer Monumentalbau aus der NS-Zeit erspart geblieben. Andererseits aber war der Umzug Hubachs demnach überflüssig und könnte heute als Steuerverschwendung in den Fokus des Steuerzahlerbundes kommen.

Albrecht Kirschner, Marburg