Der damalige Leiter des Staatsarchivs Darmstadt, Prof. Dr. Eckhart G. Franz, führte ab 1987 anlässlich der Veröffentlichung der Lebenserinnerungen des „Grandseigneurs“ Michael Kutuzov-Tolstoy (1896–1980) eine dienstliche Korrespondenz, die sich vor allem an einer Passage in den Erinnerungen festbiss. Der Graf schildert Begebenheiten in der russischen Gesandtschaft in der Wilhelmstraße 28 in Darmstadt (heute: Goethestraße) und erwähnt eine Marmortafel im Aufenthaltszimmer seiner Mutter. Auf der Tafel war zu lesen: „In diesem Zimmer wurde Baronin Mary Vetsera geboren…“ (Michael Kutuzov-Tolstoy: Mein Leben. Von Petersburg nach Irland, Marburg 1987, S. 34). Prof. Franz wollte es zunächst nicht recht glauben, dass die Geliebte des Kronprinzen Rudolf, die mit dem Thronfolger 1889 gemeinsam in Mayerling den Freitod wählte, aus Darmstadt stammen sollte, und machte sich auf eine Spurensuche.
Mary Vetsera
War die Geliebte des Kronprinzen Rudolf eine Darmstädterin?
Bekannt – auch durch zahlreiche Verfilmungen – ist die tragische Geschichte der Mary Vetsera, die den habsburgischen Thronfolger, Kronprinz Rudolf (1858–1889), 1888 kennengelernt hatte. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1889 erschoss sich dieser auf Schloss Mayerling, nachdem er zuvor die Baroness mit deren Einwilligung durch einen Kopfschuss getötet hatte. Für das Haus Habsburg und die Geschichte der Donaumonarchie war diese Tat ein schwerer Schlag. Mary Vetsera wurde, ohne Aufsehen zu erregen, auf dem Friedhof von Heiligenkreuz im Wienerwald bestattet. Die Inschrift des Grabes lautet: „Mary Freiin v. Vetsera. Geb. 19. März 1871 Gest. 30. Jänner 1889. Wie eine Blume sprosst der Mensch auf und wird gebrochen. Job 14.2“.
Von Darmstadt ist hier nichts zu lesen, und bis heute wird als Geburtsort fast immer Wien angegeben. Damit folgt man dem Gotha, in dem die Freiherren von Vetsera nur 1933 aufgeführt werden, also ganze 44 Jahre nach der Tat. Professor Franz sah sich die Sache genauer an und kam zu dem Fazit: „Der zunächst zweifelnde Archivar findet bei der Nachsuche in Darmstädter Adreßbüchern und Staatskalendern, daß Albin Freiherr von Vetsera vom Sommer 1870 bis zum Februar 1872, als er zum Abschied das Großkreuz des Hessischen Philipp-Ordens erhielt, als letzter kaiserlich-österreichischer Gesandter am Darmstädter Hof in der Bessunger Wilhelmstraße 28 residiert hat, einem vom Samengroßhändler Heinrich Keller errichtetes Anwesen, das später Sitz der russischen Gesandtschaft wurde. Die nach der Gründung des Bismarck-Reichs auf Höflichkeitskontakte beschränkte Vertretung Österreichs wurde mit Vetseras Abgang nach Stuttgart verlegt. Mary Vetsera, das dritte Kind des Gesandten, ist tatsächlich in der Darmstädter Zeit ihrer Eltern am 19. März 1871 geboren, obwohl der Gotha, in den die Vetseras erst 1933 aufgenommen wurden, als Geburtsort Wien vermerkt.“ (HStAD Best. H 59 Nr. 1143).
Tatsächlich erfahren wir von der Geburt der Tochter aus erster Hand nichts. In den Kirchenbuchduplikaten (HStAD Best. C 11 Nr. 34/1-66Öffnet sich in einem neuen Fenster; 76/1-52Öffnet sich in einem neuen Fenster oder 77/1-23Öffnet sich in einem neuen Fenster) findet sich kein Eintrag. Auch in österreichischen Zeitungen wird die Geburt nicht angezeigt. Einziger näherer Hinweis ist ein Eintrag in der „Grazer Zeitung“ in dem für die Zeit zwischen dem 26. April und 17. Mai 1871 die Ankunft einer „Baronesse Vetsera von Wien“ im Kurort Gleichenberg südöstlich von Graz erwähnt wird (Grazer Zeitung 8. Juli 1871). Für die Zeit vom 2. bis 3. Juli wird dann „Baron Albin Vetsera, k. k. Gesandter mit Familie und Dienerschaft“ in Gleichenberg gemeldet (Grazer Zeitung 26. Juli 1871). Es könnte also sein, dass sich die Ehefrau zur Zeit der Niederkunft in Wien befunden hat. Der zeitliche Abstand zur Geburt ist aber zu groß, um darauf eine Argumentation aufzubauen. Und so bleibt es ungewiss, wem zu glauben ist.
Die Tafel selbst ist seit der Darmstädter Brandnacht 1944 nicht mehr erhalten. Wer sie angebracht hat, so Franz, sei ungewiss: „ob die Witwe des Geheimen Legationsrats Ludwig von Leonhardi, der die Gesandtschaftswohnung von den Vetseras übernommen hatte, oder der spätere Hauseigentümer Gustav Hickler, ist nicht mehr feststellbar“. Erstaunlich scheint es aber doch, dass diese Persönlichkeit überhaupt für so zentral angesehen wurde, dass man ihr eine Erinnerungstafel widmete.
Die Erkenntnis von Franz hat sich in der Forschung kaum durchgesetzt. Der Geburtsort Wien überwiegt in der Literatur bei Weitem. Das Landesgeschichtliche Informationssystem Hessen gibt in der Hessischen Biographie bei den Kindern des Freiherrn Vetsera an „Vetsera Marie („Mary“) Alexandrine Freiin von, * Darmstadt Wilhelmstr. 28? Wien 19.3.1871, † Jagdschloss Mayerling 30.1.1889, Suizid zusammen mit Kronprinz Rudolf von Österreich“. Thomas Deuster publiziert im Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 64 (2006), S. 232, in kurzer Zusammenfassung den Forschungsstand von Franz. Einen letztgültigen Nachweis über die Geburt der Mary Vetsera scheint bis heute nicht gefunden worden zu sein. Hinweise werden unter darmstadt@hla.hessen.de dankend entgegengenommen.
Rouven Pons, Darmstadt
Leserreaktion
Nach Erscheinen des Artikels erreichte uns folgende Zuschrift:
"...Im in Wien erschienenen „Neuigkeits-Welt-Blatt“ vom 25.06.1931 fand ich jedoch den Aufsatz „Mary Vetsera war eine geborene Wienerin!“. Der Verfasser meint, unwiderlegbare Beweise für die Geburt in Wien gefunden zu haben; das angebliche Geburtshaus ist sogar in dem Artikel abgebildet: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nwb&datum=19310625&seite=13&zoom=33 Öffnet sich in einem neuen Fenster"
Der Wiener Taufeintrag von Mary Vetsera enthält keinen Hinweis auf Darmstadt, sondern macht eine Geburt in Wien sehr wahrscheinlich: Taufbuch von St. Johann Nepomuk, 1868-1871 Öffnet sich in einem neuen Fenster(erster Eintrag)