Auf einem von Hügeln umsäumten Feldweg tummeln sich einige Personen in Biedermeierkostümen, die lustige Häuser und eine Kirche mit sich herumtragen, so dass es wirkt, als wandere ein Stadtteil nicht nur mit Sack und Pack, sondern mit allen Immobilien aus ( HStAD, R 4, 16455Öffnet sich in einem neuen Fenster). Einige der Gebäude haben sogar regelrecht Gesichter, und die großen Kulleraugen wirken so, als würden sie skeptisch bis traurig wegen dieses Exodus zurückblicken. Die Unterschrift „Carnevalsumzug Darmstadt 1906. Gartenstadt Hohler Weg“ gibt Aufschluss, um was es sich handelt.

Fastnacht im Jugendstil
Kunstpostkarte von Kurt Kempin von 1906

Im Nordosten Darmstadts, nicht allzu weit entfernt von der Mathildenhöhe, sollte ab 1906 ein Neubaugebiet zwischen Bahngleisen, Dieburger Straße und Fasanerie erschlossen werden. Den Auftrag erhielt der Architekt Joseph Marie Olbrich, dessen Architektursprache eindeutig in den Gebäuden zu erkennen ist. Er hatte die Bebauung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe maßgeblich geprägt und Gebäude wie die Glückert-Häuser, das Atelierhaus (Ernst-Ludwig-Haus) oder erst recht der Hochzeitsturm gehören noch heute zu den Wahrzeichen der Stadt.

Auf den auf der Karte festgehaltenen Gebäuden sind eindeutig Anklänge an das Kleine Glückert-Haus, an das Ernst-Ludwig-Haus, aber auch an das Wiener Sezessionsgebäude zu erkennen. Die moderne sezessionistische Architektur begab sich also als Fastnachtsumzug an Darmstadts Stadtrand, um sich dort auszubreiten. Warum sich die Protagonisten dann allerdings in den doch etwas behäbig-gestrigen Biedermeierkostümen auf den Weg machten, wird wohl ein Geheimnis des Künstlers bleiben.

Dieser – Kurt Kempin, wie oben links zu lesen – war seit 1896 Dekorationsmaler und Bühnenbildner am Darmstädter Hoftheater und ließ schon recht bald Formen des modernen Jugendstils in die Gestaltung des Bühnenbildes einfließen. 1906 legte er auch eine fünfzehn Blätter umfassende Publikation mit sechs Faschingswagen für den Darmstädter Karnevalsumzug vor (ULB Darmstadt 43/2328). In diesen Zusammenhang gehört auch diese Kunstpostkarte.

Aus dem Exodus von Olbrichs Architektursprache wurde dann allerdings leider nichts. Denn der Architekt verstarb 1908, ohne dass seine Pläne Realität geworden wären. Ab 1909 übernahmen die Architekten August Buxbaum und Wilhelm Koban die Planung der Gartenvorstadt „Hohler Weg“, die aber auch nicht verwirklicht wurden. Stattdessen errichteten wohlhabende Darmstädter rund 25 Villen in traditionalistischer Bauweise. Das heutige Darmstädter Komponistenviertel – benannt nach den Straßennamen – entstand. Die Kunstpostkarte vermittelt aber zumindest einen Eindruck, wie es hätte werden können.
Rouven Pons, Darmstadt
