Historisches Schriftstück: Festlegung der Lebensmittel, auf die der Auszügler Heinrich Möller jährlich ein Anrecht hat (HStAM, 275 Schenklengsfeld, 308)

Was ist eigentlich... ein Auszüg(l)er?

Seltsame Begriffe im Archivgut

In Standesamtsregistern und Kirchenbüchern sind meist Stand und Berufe der Personen, die eine Geburt anzeigen, heiraten wollen oder verstorben sind, mit angegeben. Damit bieten diese Quellen als Rückgratüberlieferung für die Familienforschung weitere Facetten über die Vorfahren, die deren Lebensumstände näher erhellen. Viele der genannten Berufe und Standesbezeichnungen gibt es heute kaum noch – Stellmacher bzw. Wagner werden in Zeiten von Luftbereifung nicht mehr gebraucht; Mollenhauer stellen keine Backmulden mehr her. Andere sind sehr regionaltypisch: So begegnen in den Hanauer Standesamtsregistern viele Diamantschleifer und Goldarbeiter.

Oft genannt, gerade in Sterbe- und Beerdigungsbüchern, sind die Auszüg(l)er. Damit werden Personen bezeichnet, die Haus (und Hof) bereits an die nächste Generation weitergegeben haben, doch weiterhin dort ein lebenslanges Aufenthaltsrecht besitzen, das „Altenteil“, das vor Einführung und Durchsetzung einer gesetzlichen Rentenversicherung die Altersvorsorge sicherte.

Historisches Schriftstück: Beginn des Sterbeeintrags der Auszüglerin Louise Friederike Schneider geb. Weber, 1901 (HStAM, 905, 1338-05)

Die Rechte und Pflichten der „Übergeber“ und „Übernehmer“ wurden in Übergabeverträgen genau geregelt. Heinrich Möller beispielsweise übergab 1883 an seinen Schwiegersohn Johann Heinrich Deiseroth sein gesamtes Grundvermögen in Form von Haus, Hof mit Scheune und Stallungen, Landbesitz, „sowie sämmtliches Vieh, Schiff und Geschirr [feststehender Ausdruck zur Beschreibung sämtlicher landwirtschaftlicher Gerätschaften], Dünger, Früchte, Fourage [Pferdefutter] und Stroh, sämmtliche Mobilien, sämmtliche Haus- und Küchengeräthe“ und alles weitere, was sich auf dem Hof befindet, gegen eine Bezahlung von 11.700 Mark, die sich z.T. aus der Übernahme verschiedener Schulden zusammensetzen. Deiseroth verpflichtete sich zur Übernahme aller Abgaben und Lasten auf dem Grundvermögen und stellte seinen Schwiegereltern eine Wohnung in der Nebenstube und die darüber liegenden Kammern zur Aufbewahrung ihres Besitzes zur Verfügung. Falls sie nicht an einem Tische essen sollten, hatte er zudem Lebensmittel (darunter „eine fette Gans zu Martinitag“), Brennholz und dreißig Mark Taschengeld im Jahr bereitzustellen. Ferner wurden die Mitnutzung von Garten und Gerätschaften sowie ein ordentliches Begräbnis geregelt. Im vorliegenden Fall scheinen die Übergeber noch recht jung gewesen zu sein, denn es wurden auch Bestimmungen für die weiteren Kinder, die zum Teil noch nicht das Konfirmationsalter erreicht hatten, getroffen.

Natürlich war das Zusammenleben der beiden Parteien, das Einhalten der gegenseitigen Verpflichtungen nicht immer konfliktfrei – daher sind im Hessischen Landesarchiv mehrere Akten zu Rechtsstreitigkeiten wegen der Auszugsleistungen überliefert. Im bürgerlichen Rechtsstreit „Brod gegen Brod“, 1899 vor dem Amtsgericht Schenklengsfeld verhandelt, forderte Justus Brod für seine Ehefrau und sich selbst verschiedene Kleidungsstücke, die ihnen laut Übergabevertrag aus dem Jahr 1895 zustünden, seit einem Jahr jedoch nicht mehr von seinem Sohn Conrad zur Verfügung gestellt wurden, darunter eine Arbeitsjacke und –hose, eine Joppe, leinene Hemden und ein wollenes Halstuch für seine Frau.

Übergabeverträge und die Rechtsstreitigkeiten, die aus dem Zusammenleben der Generationen entstehen, bieten somit als Ergänzung zu den rein personengeschichtlichen Daten aus den Registern und in Kombination mit anderen sozialgeschichtlichen Quellen wie etwa Nachlassinventaren einen guten Einblick in den Alltag der Vorfahren – in das familiäre Zusammenleben, Besitzwechsel, die Ausstattung des (land)wirtschaftlichen Betriebs und Standards der Versorgung.

Katrin Marx-Jaskulski, Marburg