Modernes Foto: Bastian Grothoff, Vivian Donath und Jana Buchert bei ihrem Praktikum im Staatsarchiv Marburg

Praktikum im Staatsarchiv Marburg

Erschließung von „Sippenakten“ im Bestand 180 Landratsamt Arolsen

Im Rahmen unseres Praktikums vom 1. März bis 6. April 2023 haben wir die Vielseitigkeit der Arbeiten im Hessischen Staatsarchiv Marburg intensiv kennenlernen können. Ob bei der Erschließung interessanter Bestände, Öffentlichkeitsarbeit oder Überlieferungsbildung, ob Archivpädagogik oder Digitalisierung – wir konnten in alle Bereiche hereinschnuppern und wurden vom Kollegium vor Ort dabei unterstützt, den Alltag von Archivarinnen und Archivaren, Bibliothekaren und Bibliothekarinnen und vielen weiteren Berufsfeldern selbst zu erfahren. Wir blickten hinter die Kulissen eines Ortes, den wir sonst nur aus der Nutzung kannten, erschlossen selbst Bestände, besuchten die Standorte des Grundbuch- und Personenstandsarchivs Neustadt und des Archivs der deutschen Jugendbewegung, wurden vertraut mit LAGIS und schrieben fesselnde Beiträge wie diesen hier.

Zu Beginn unseres Praktikums galt unsere Aufmerksamkeit ganz einem eigenen Erschließungsprojekt. Im Bestand 180 Arolsen (Landratsamt) verzeichneten wir 386 sogenannte „Sippenakten“, die zwischen dem 1. April 1935 und 1942 vom zuständigen Staatlichen Gesundheitsamt der Kreise der Twiste und Wolfhagen (Abt. Erb- und Rassenpflege) angelegt wurden; ab 1942 wechselte die Zuständigkeit zum staatlichen Gesundheitsamt des Kreises Waldeck in Korbach. Die Erfassung der Informationen in den „Sippenakten“ diente im Nationalsozialismus der Kontrolle über Eheschließungen und etwaige Maßnahmen, zu deren Förderung sowie den Durchführungen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Über die hier angelegten Akten wurden sog. „erbkranke“ Familien nachvollzogen. Die Akten enthalten u.a. einen „Sippenfragebogen“, meistens ausgefüllt durch die Prüflinge selbst, eine „Sippentafel“, verschiedene Untersuchungsbögen und ggf. Prüfungsbögen für Eheeignung. Bei Fällen von Zwangssterilisationen kamen oft Intelligenzprüfbögen, die Beschlüsse zur Unfruchtbarmachung oder Ablehnung dieser sowie Beschwerden gegen die Urteile hinzu. Verstreut über die Akten mit einer Laufzeit von 1934/35 bis in Einzelfällen 1948 finden sich zahlreiche verschiedene Schriftstücke, die einen Einblick in individuelle Schicksale aus der Gegend zulassen.

Es gibt viele verschiedene Gründe, weswegen die Akten angelegt wurden: Die meisten Bögen wurden zur Prüfung der Eheeignung, für Bewerber auf Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfe und für Neubauern ausgefüllt, wenn auch immer wieder besondere Fälle im Bestand auftauchen. Über die Laufzeit ergibt sich, dass die meisten Akten zu Unfruchtbarmachungen schon sehr früh (1934–1936) angelegt wurden, während laut der Akten später nur noch vereinzelt Leute zwangssterilisiert wurden. Zwar sind noch einige Akten aus dem Bestand mit einer Sperrfrist versehen, aber auch bei den ungesperrten Akten zeigt sich ganz klar, dass noch zahlreiche Fragen an den Bestand gestellt werden können, die zur Aufarbeitung der Schrecken der nationalsozialistischen Erbbestandsaufnahme Auskunft geben können.

Und auch wenn uns die paläographischen Übungen hin und wieder fast um den Verstand brachten, haben wir in unserem Praktikum unheimlich viel gelernt und wünschen zukünftigen Praktikantinnen und Praktikanten nur allzu gerne, ebenso spannende Erfahrungen zu machen.

Bastian Grothoff, Vivian Donath und Jana Buchert