Modernes Foto: Blühende Bäume, dahinter die Burg

Jugend- und Lebensreform-Bewegungen

„Der Globus quietscht und eiert“. Jugend- und Lebensreformbewegungen inter- und transnational. Archivtagung spannt einen neuen globalen Bogen auf. Vom 25. bis 27. Oktober 2024 fand die Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein in Witzenhausen statt.

Was inspiriert Menschen zu Veränderungen? Wie kommen Bewegungen, die etwa für Naturschutz, Gesundheit, Jugend oder Reformpädagogik eintreten, zu ihren programmatischen Ansätzen? Bislang unterlagen viele Forschungen dazu der Prämisse, dass die Bedingungen im deutschsprachigen Raum dafür zu spezifisch deutschen Ausprägungen führten. Dabei wurden die Verbindungen zu anderen Regionen in Europa und der Welt meist nicht systematisch berücksichtigt. Den Horizont in dieser Hinsicht zu erweitern, das hatten sich die Veranstalterinnen der Tagung, Prof. Dr. Carola Dietze (Jena) und Archivleiterin Dr. Susanne Rappe-Weber, vorgenommen und dafür eine Reihe ausgewiesene Forschende eingeladen.

Zu Beginn erläuterten Dietze und Rappe-Weber, wie sich die Fokussierung auf „deutsch“ als Dreh- und Angelpunkt von Beginn der Bewegung an über die Phasen der Historisierung und Selbsthistorisierung bis in die Gegenwart in der Forschung und in der Archivarbeit ausgebildet und dann immer weiter verstärkt hat. Daran anknüpfend formulierten sie erste Schritte auf dem Weg zu einer Globalgeschichte der Jugend- und Lebensreformbewegung.

Menschen sitzen in einem Raum, teilweise mit Computern auf dem Schoß

Den ersten globalen Kontrapunkt setzten Prof. Dr. Julia Hauser (Berlin) und Prof. Dr. Daniel Siemens (Newcastle) mit „Indien“ – ein Subkontinent mit ganz eigenständigen und einflussreichen Reformideen, vermittelt etwa in der vegetarischen Ernährung. Über die ins Exil gedrängte, indische Unabhängigkeitsbewegung entstanden in den 1920er Jahren personale Verbindungen zur deutschen sozialistischen Jugendbewegung. Danach richtete sich der Blick auf katholische Jugendbewegungen im Ländervergleich Kanada – Deutschland – Litauen, ein Forschungsprojekt von Prof. Dr. Indre Cuplinskas (Edmonton, Alberta). Ebenfalls in Nordamerika wurden Prof. Dr. Meike Werner (Nashville, Tennessee) und Lisa Gersdorf (Erfurt) bei ihren Reformbewegungsforschungen fündig. Werner untersuchte die Einflusssphäre subkultureller ländlicher Siedlungen, während L. Gersdorf eigenständige amerikanische Reformpädagogik-Schulen in ihrer Programmatik und Praxis vorstellte. Schließlich nahmen drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das keineswegs harmlose Wirken von Vertretern der europäischen Jugend- und Lebensreformbewegung in kolonialisierten Ländern in den Blick. Prof. Dr. Damir Skenderovic (Fribourg) und Dr. Stephan Rindlisbacher (Bern) folgten den, eng mit Kolonialprojekten verstrickten Reisen und Expeditionen Schweizer Lebensreformer. Camille Auboin (Strasbourg) setzte sich mit dem verdeckt rassistischen Weltbild von Hans Paasche auseinander, eine bislang unterschätzte Facette des auf der Burg geehrten Reformers.

Die abschließende Sektion setzte sich mit drei verschiedenen, mit Reformbewegungen verknüpften Wissensgebieten in ihren transnationalen Ausprägungen auseinander. Prof. Dr. Paul Ziche (Utrecht) widmete sich den problematischen Konjunkturen, die Begriffe der Ganzheitlichkeit wie Harmonie, Ordnung, Zusammenhang oder One-Ness in der Philosophie um 1900 erlebten. Prof. Dr. Friedemann Schmoll (Jena) beschäftigte sich mit den Triebfedern des sich mit enormer Geschwindigkeit etablierenden Naturschutzes als Antwort auf manifeste Verlusterfahrungen in der Moderne, darin eingebettet rassistische Vorstellungen von schützenswerten, aber untergeordneten „Naturmenschen“. Mit Prof. Dr. Corinna Treitel (St. Louis, Missouri) kam noch einmal „Indien“ in den Blick, nun aber als eine, vor allem im deutschsprachigen Raum überwiegend missverstandene Chiffre für eine gesundheitsbewusste Lebensführung, wie die Verlagsgeschichte von Mahatma Gandhis „Ein Wegweiser zur Gesundheit“ (1925) eindrücklich zeigt.

von links nach rechts an einem Tisch auf einem Podium sitzend:  eine Frau mit Mikro in der Hand, daneben zwei Männer mit weißen Haaren und Brille

Innerhalb der Sektionen sowie zum Schluss der Tagung sorgten die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Archivs – Prof. Dr. Wolfgang Braungart, Dr. Gudrun Fiedler, Prof. Dr. Dirk Schumann, Prof. Dr. Detlef Siegfried und Prof. Dr. Meike S. Baader – mit ihren Einführungen, Diskussionsleitungen und Resümees für fachlich und kommunikativ gute Tagungsbedingungen. An den Abenden – einmal im Archiv, einmal am Feuer – wurde getreu dem Tagungsmotto gesungen, dass „der Globus quietschte“. Im Übrigen diskutierte das zahlreich erschienene, kenntnisreiche Publikum noch lange weiter, nutzte die Gelegenheiten zum Austausch untereinander und nahm viele Impulse zum Weiterdenken mit nach Hause.

Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen

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