Mit zwei ungewöhnlichen Akzenten lenkt die Ausstellung „Paramoderne“ in der Bundeskunsthalle in Bonn neue Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Lebensreform. Da ist zum einen der Auftakt mit dem berühmten Gemälde „Nuda Veritas“ von Gustav Klimt, mit dem der Jugendstil als künstlerischer und ideeller Strang in die Bewegung hineingeholt wird. Und da ist zum anderen das letzte Drittel der Exponate, das den Ausstrahlungen und Neuinterpretationen von „Lebensreform“ in den USA nachgeht und dabei viel Überraschendes zu Tage fördert. Zwischen diesen Polen zeigt die Ausstellung mit klaren Akzenten, worin die Modernität der Jugendaufbrüche bestand, welche Verbindungen es untereinander gab und woran bis heute aus guten Gründen angeknüpft wird. Für die notwendige Irritation sorgen Raumgestaltungen zu den ideologischen Abgründen der Liebe zur Natur und Abgeschiedenheit, sobald sich diese mit Engstirnigkeit, Rassenwahn und faschistischen Tendenzen verbanden.

Ausstellung
Wandervogel goes to California

Zwei Themen aus Hessen erfahren in der Ausstellung besondere Aufmerksamkeit: Die Wandervogel-Bewegung, jugendlicher Ausgangspunkt vieler Reformanliegen, ist eng mit den nordhessischen Orten Hoher Meißner (1913) und Jugendburg Ludwigstein (1920) verknüpft. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung stellt zahlreiche Exponate aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert zur Verfügung: vom Reformkittel bis zum Gemälde „Lichtgebet“ und vielen Einzelstücken, insbesondere aus den Nachlässen von Hugo „Fidus“ Höppener und Karl Wilhelm Diefenbach. Zudem wird die 1919 gegründete Frauensiedlung Loheland (Rhön) ausführlich gewürdigt. Als umfassende Reformeinrichtung kommen die dort praktizierten und gelehrten Berufsfelder Körperbildung, Landbau und Handwerk sowie speziell die Gymnastikausbildung in ihrer Gesamtheit in den Blick. Die Deutung als „Bauhaus der Frauen“, und damit als außerordentliche sozialpolitische Innovation, überzeugt auf Anhieb. Bis heute werden die historischen Sammlungen am historischen Ort eigenständig verwahrt.

Welche rassistisch-ideologischen Schieflagen die Verabsolutierung von Natur, Ländlichkeit und Provinz in der Lebensreformbewegung hervorbrachte, zeigt eindrucksvoll die Installation zu dem Architekten Paul Schultze-Naumburg (1869–1949). Sein Werk repräsentiert in besonderer Weise den Weg von innovativen Anfängen der Lebensreform über völkische Tendenzen bis in die Mitte des Nationalsozialismus. In diesem Kontext wird auch der Rückzug des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) in den Schwarzwald als inszenierte Unentschiedenheit und Verantwortungslosigkeit problematisiert.

Der Transfer lebensreformerischer Praktiken und Ideen aus Deutschland nach Amerika, die „Kalifornication“, vermittelt sich über eine Fülle von Exponaten aller Genres. Einen prominenten Platz nimmt dabei die Figur des „Nature Boy“ ein. Dieses äußerst populäre Lied von Eden Ahbez hat eine reale, einflussreiche Gruppe von „Naturburschen“ zum Vorbild. Diese erprobten als Vorläufer der späteren Hippie-Bewegung an der Westküste Kaliforniens einen alternativen Lebensstil. Inspirationen dafür lieferte unter anderem Friedrich Wilhelm Pester (1885–1963), ein Auswanderer aus dem sächsischen Borna. Der ließ sich ab 1916 in einer grasgedeckten Hütte in Palm Canyon nieder. Er verzehrte, was er anbaute, spielte Gitarre usw. Seine Weltanschauung vermittelte er über Postkarten und brachte so die Lebensreform aus Deutschland nach Amerika. Popkulturelle Bezüge zur Hippie-Kultur vervollständigen das Gesamtbild.
Die Ausstellung ist noch bis zum 10. August 2025 in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen.
Susanne Rappe-Weber, Witzenhausen