Bei Erschließungsarbeiten am Familienarchiv von Hahn im Jahr 2018 wurden die Lebenserinnerungen Heinrich von Hahns (1866–1958) ausgewählt, transkribiert und kommentiert zu werden. Mit dieser Online-Publikation steht nun über den Server der ULB Darmstadt eine Quelle zur Verfügung, die alle Höhen und Tiefen der hessen-darmstädtischen Geschichte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem sehr subjektiven, nicht selten selbstverliebten und oft auch problematischen Urteil schildert (Link zur Edition: Lebenserinnerungen des Heinrich von HahnÖffnet sich in einem neuen Fenster).
Neuer Blick auf Darmstadt
Online-Edition der Lebenserinnerungen des Heinrich von Hahn
Heinrich von Hahn entstammte einer alten Darmstädter Offiziersfamilie, die 1890 geadelt wird, und blieb zunächst der militärischen Tradition der Familie treu, wie es auch seine Söhne später taten. Im Kaiserreich war die Familie konservativ und monarchistisch eingestellt und dem regierenden großherzoglichen Haus sowie den führenden Adelskreisen zugetan, zu denen sie sich zählte. Im Ersten Weltkrieg war der Artillerist Heinrich von Hahn patriotisch; zum Kriegsende und der Weimarer Republik wie folgt eingestellt: „Der neue Marxistenstaat war mir zuwider, ja verhaßt als Urheber des Schandfriedens.“ Der Ausstieg aus der Offizierslaufbahn im Jahr 1920 war aufgrund der politischen Lage und Reduzierung der deutschen Armee nach dem Versailler Vertrag eher wirtschaftlich bedingt. So begann er 1920 sein „zweites Leben“ als Opernkritiker beim „Darmstädter Tagblatt“, als Organisator im Richard-Wagner-Verein sowie bei der Wiedereröffnung des Artillerie-Kasinos. Heinrich von Hahn war künstlerisch begabt: Er musizierte, schrieb, malte und interessierte sich für „die schönen Künste“ wie Musik, Theater, Literatur, Philosophie, Geschichte, Architektur, Bildende Kunst und ähnliches.
Die Aufzeichnungen seines Lebens, die Heinrich von Hahn mit 70 Jahren begann, sind im Rückblick auf Kindheit, Jugend und sein Dasein als Erwachsener subjektiv gefärbt und stark idealisiert. Seine Aufzeichnungen werfen dennoch ein einzigartiges und lebendiges Bild auf die Darmstädter Gesellschaft, ihr kulturelles Leben und auf die Garnisonsstadt, erzählt von einer schillernden Persönlichkeit. Sie sind aber zugleich auch ein Zeitzeugnis einer adeligen Familie in Darmstadt ab etwa 1870, im Ersten Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik, der NS-Zeit, den Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
Heinrich von Hahn bezeichnete sich selbst als „politisch neutral: aristokratisch und monarchistisch“. Seine Lebenserinnerungen, im Jahr 1935 begonnen, sind aber auch antisemitisch geprägt: Er begrüßte die NS-Bewegung, distanzierte sich jedoch zugleich von der Gleichschaltung im Kunst- und Theaterbereich und beendete 1933/34 sowohl seine Tätigkeit als Opernkritiker, wie auch seine Mitgliedschaft im Ständigen Rat, vordergründig aus Altersgründen. Auch die politische Ordnung der Nachkriegszeit fand nicht seine Zustimmung: „Demokratie als Heilmittel passt für Deutschland nicht, es ist ungeeignet, sich selbst zu führen, es will und ist gewohnt nach Charakter und Geschichte geführt zu werden, aristokratisch zu leben, nicht demokratisch.“
Die Edition der Tagebücher ist annähernd komplett. Ausgespart bleiben nur die Erinnerungen zum Erlebnis an der Front im Ersten Weltkrieg sowie einige kurze Passagen, die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht veröffentlicht wurden. Wer sich also der hessen-darmstädtischen Geschichte dieser Zeit nähern möchte, kann dies ab sofort unter Zuhilfenahme eines sehr subjektiven Blickes tun.
Eva Haberkorn und Rouven Pons, Darmstadt