Knapp zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, 1954, wurde das ‚Gesetz über der Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener‘ (KgfEG) erlassen. Mitte der 1950er Jahre mag der Begriff der Kriegsgefangenentschädigung im ersten Moment irreführend sein, da die Entschädigten nicht die Gefangenen der Nationalsozialisten waren. Das Gesetz gewährte vielmehr den deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges in ausländischem Gewahrsam eine Entschädigung. Berechtigt waren jene, die über das Jahr 1946 hinaus festgehalten worden waren. Sie erhielten für jeden nachgewiesenen Monat in Gefangenschaft einen festen Entschädigungsbetrag von 30,- DM. Zudem konnten für bereits verstorbene berechtigte Personen Erbenanträge gestellt werden. Die Auszahlung der Entschädigung richtete sich an der sozialen Dringlichkeit der Antragsteller, bei der das Entlassungsjahr, das Familieneinkommen bei Antragstellung, die Haushaltsgröße sowie eine eventuelle Kriegsbeschädigung berücksichtigt wurden. Die Antragsteller mussten zudem eine Unbedenklichkeitsbescheinigung von der Zentralen Rechtschutzstelle vorlegen. Wie heute bekannt ist stellte diese auch für bekannte Kriegsverbrecher Bescheinigungen über deren angebliche Unbedenklichkeit aus. Die Zentrale Rechtschutzstelle und das KgfEG sind heute Gegenstand umfassender Kritik, da die Entschädigungen auch an Personen ausgezahlt worden sind, die nicht nur an dem unmittelbaren Kriegsgeschehen, sondern auch an der Verwaltung, der Politik und der Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren.
Staatsarchiv Marburg
Entschädigungszahlungen für Kriegsgefangene
Im Staatsarchiv Marburg sind im vergangenen Jahr 3069 Kriegsgefangenenentschädigungsakten aus dem Landkreis Waldeck-Frankenberg im Bestand 609 übernommen und verzeichnet worden. Sie umfassen den Zeitraum von 1954 bis in die 1970er Jahre. Der Bestand 609, Lastenausgleichsämter bei den Landratsämtern, enthält hauptsächlich Anträge auf Entschädigungen für Kriegssachschäden, die vornehmlich in den 1980er und 90er Jahren ins Staatsarchiv übernommen wurden. Die Altregistratur des Ausgleichsamts für den Landkreis Waldeck-Frankenberg wurde hingegen erst kürzlich aufgelöst und in diesem Zuge dem Staatsarchiv Marburg zur Übernahme angeboten. Eine Besonderheit dieser Anbietung stellten die darin befindlichen zahlreichen Kriegsgefangenenentschädigungsakten dar, die in vier Zugängen im Jahr 2021 gänzlich übernommen wurden und nur für diesen Landkreis im Staatsarchiv Marburg überliefert sind. Während die restlichen Unterlagen des Bestands 609 derzeit noch unerschlossen sind, konnten die 3.069 Kriegsgefangenenentschädigungen in Erschließungsprojekten des Jahres 2022 in Gänze erschlossen werden. Nun stehen sie der Forschung über das Recherchesystem „Arcinsys“ zur Verfügung. Ein Teil der Unterlagen ist v.a. aufgrund der Nennung jüngerer Familienangehöriger durch personenbezogene Schutzfristen noch für die Benutzung gesperrt. Bei einigen Akten sind die Fristen aber bereits abgelaufen, so dass sie auf ihre Nutzung und Auswertung im Lesesaal des Staatsarchivs Marburg warten.
Die Anträge zur Entschädigung mussten durch diverse Dokumente der derzeitigen Lebensumstände, des Ortes und der Dauer der Gefangenschaft und deren Begründung untermauert und bezeugt werden. Die angegebenen Gründe reichen innerhalb des Bestandes von der „deutschen Volkszugehörigkeit“, über die Hauptgruppe der „Wehrmachtsangehörigen“, hin zu „Politikern“, „Mitgliedern der NSDAP“ oder „Angehörigen der Waffen-SS“. Die Anträge wurden somit von Personen unterschiedlichen Alters, meist männlichen Geschlechts gestellt, die für ihre Zeit in Gewahrsam Entschädigung forderten und sich durch die Ausgleichszahlungen ein neues Leben aufzubauen versuchten. Unter diese Anträge mischten sich somit auch solche von Personen, die maßgeblich an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren, weswegen heute große Kritik an dem Gesetz geäußert wird.
Die Kriegsgefangenenentschädigungsakten des Bestands 609 geben einen umfangreichen Überblick über das Schicksal der Kriegsteilnehmenden und im NS involvierten Personen in dem sich an das Kriegsende anschließenden Jahrzehnt. Aufgrund der zahlreichen Nachweise, die dem Lastenausgleichsamt vorgelegt werden mussten, lassen sich die Lebensumstände der Individuen in der ausländischen Kriegsgefangenschaft sowie die unmittelbaren Jahre nach der Entlassung zurück im Kreis Waldeck-Frankenberg rekonstruieren.
Lea Lachnitt, Marburg