Briefkopf eines maschinengeschriebenen Briefs

Der frühe NS-Staat durchleuchtet die Gesellschaft

Eine unscheinbare Akte zeigt eindrücklich, wie die Strukturen der NSDAP schon in den ersten Monaten des Jahres 1933 auch auf lokaler Ebene wirksam wurden.

Nachdem die Wehrmacht am 08. Mai 1945 kapituliert hatte und das in Trümmern liegende Deutschland auf eine Bilanz von Millionen Opfer des NS-Regimes schaute, setzten Ohnmacht, Erschrecken, Selbstentlastung, aber auch Erklärungsversuche ein, die sich – gleichwohl von Wandlungen und Brüchen geprägt – bis heute fortsetzen.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurde der industriell geführte Massenmord an Juden, Kranken und aus anderen Gründen aus dem „Volkskörper“ ausgestoßenen Personengruppen zwar noch nicht unmittelbar Realität, dieser kam jedoch keineswegs aus dem Nichts, sondern war Ergebnis eines längeren Entstehungsprozesses.

Maschinengeschriebener Text
Vertrauliche Mitteilung und beschleunigte Erledigung gewünscht: Für den Gauobmann des NS-Ärztebundes, Dr. med. Seil, war wichtig, ob sich Ärzte seines Bezirks im "marxistischen oder kommunistischen Sinne" betätigt hatten oder dessen verdächtigt wurden (HHStAW, 483, 11530)

Den Nachweis über einen kleinen Baustein dieses totalitären Systems konnten wir vom Referat Überlieferungsbildung im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden vor einiger Zeit aus privater Hand übernehmen, da die Unterlagen im Nachlass eines durch die NSDAP in dieser Abfrage als unzuverlässig eingestuften Arztes überdauerten. Dieser hatte diese Akte des NS-Ärztebundes in der Nachkriegszeit, als er sich in der kassenärztlichen Vereinigung Hessen engagierte, an sich genommen, um sie nicht der Gefahr einer gezielten Entsorgung auszusetzen.

Genau 12 Jahre vor der Kapitulation – am 08. Mai 1933 – versandte der Gauobmann Hessen-Nassau-Süd des nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes Dr. Heinrich Seil (*1889) aus Diez eine vertrauliche Anfrage an alle zugehörigen Ortsgruppen der NSDAP, in der er fragte, ob im Bezirk Ärzte bekannt seien, die „sich im marxistischen oder kommunistischen Sinne betätigt“ haben oder dessen verdächtig seien. Neben unmittelbaren Gewalttaten und Bedrohungen beispielsweise durch die SA, kannten die Nationalsozialisten auch subtilere und langfristig wirkungsvolle Methoden, um ihren Machtanspruch zu sichern. So nutzten sie ihre Organisationsstrukturen auch, um umfänglich Informationen über tatsächliche oder vermeintliche Feinde zu sammeln und beschritten damit den Weg von der systematischen Erfassung über die systematische Entrechtung bis hin zur systematischen Vernichtung.

Handschriftlicher Text
Besonders eifrig: NSDAP-Blockwart Christ Pilgenröther aus Mengerskirchen berichtete über das Zentrums-Mitglied Dr. med. Brandt und äußerte Zweifel über dessen Gesinnungswandel zum Nationalsozialismus: "Jedenfalls ist der Mann mit Vorsicht zu behandeln", 1933 (HHStAW, 482, 11530)

Die übernommene Akte enthält aber nicht nur die Frage, sondern auch die Antworten der angeschriebenen Stellen. Art und Inhalt der Rückmeldungen sind gerade in der Zusammenschau interessant. Während einige Anschreiben lediglich urschriftlich mit dem Vermerk „Fehlanzeige“ bzw. einer anderslautenden Verneinung des Gefragten rückgesandt wurden, befleißigten sich andere wiederum, umfangreich Auskunft über die Ärzteschaft zu geben. Dabei wird klar, dass die Frage keineswegs als nur konkret auf kommunistische bzw. marxistische Betätigungen gerichtet verstanden wurde, sondern als Abfrage aller nicht nationalsozialistisch gesinnter Ärzte. So erfahren wir aus Mengerskirchen, dass der dortige Arzt bislang „dem Zentrum angehört“ und „die Nazigeschäftsleute boykottiert“ oder aus Dorchheim, dass der dortige Arzt „sich in keiner Weise für die N.S.D.A.P betätigt“ habe und „politisch anders eingestellt“ sei. In doppelter Weise traf es einige jüdische Ärzte, die einer Mischung aus politischer und antisemitischer Diffamierung ausgesetzt waren. So meldete der Ortsgruppenleiter von Geisenheim, dass der dortige Arzt Dr. Siegfried Nathan – nach dem in Geisenheim heute eine Straße benannt ist – sich „im marxistischen Sinne betätigt hat, wie es bei einem Juden ja auch gar nicht anders zu erwarten ist.“

Für die regionale Forschung liefert die Akte einen wertvollen Baustein, um zu dokumentieren, wie schnell und bis in die kleinsten Verästelungen der NS-Staat die Bevölkerung nach Andersdenkenden durchkämmte. Wir freuen uns deshalb, dass die Akte mit dem nüchternen Originaltitel „Kassenärztliche Vereinigung Hessen. Bezirksstelle Limburg. Akten aus der N.S.D.A.P-Zeit“ nun in Bestand 483 unter der Signatur HHStAW, 483, 11530Öffnet sich in einem neuen Fenster verzeichnet werden konnte und perspektivisch der Nutzung zur Verfügung steht . 

Elias Miorandi, Wiesbaden

Weitere Akten zu Dr. Heinrich Seil: HHStAW Best. 405, Nr. 28228Öffnet sich in einem neuen Fenster und HHStAW Best. 468, Nr. 566Öffnet sich in einem neuen Fenster

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